Identität in Einzelteilen
von Ute Noll
"Precious Moments", wertvolle Momente, nennt die Berliner Künstlerin Yotta Kippe ihre Serie, für die sie sich in ihrem Atelier genau zweimal selbst fotografiert hat. Die Aufnahmen entstanden bei Tageslicht und vor einem neutralen Hintergrund. Aus ihrem digitalen Abbild wird Yotta Kippes formbares Material. Bis heute. Der Computer und ein Bildbearbeitungsprogramm sind dabei ihre Werkzeuge. Mit ihnen verändert die Künstlerin ihr Gesicht so stark, dass es anschließend kein äußeres Bildnis ihres Selbst mehr ist. Yotta Kippe verwendet ihre Identität und drängt sie gleichzeitig zurück. So schafft sie Raum für eine philosophische Auseinandersetzung.
Als Künstlerin wählt Yotta Kippe das Bild - genau gesagt ihr Selbstporträt - um sich mitzuteilen. "Worte begrenzen", erklärt die Künstlerin. Yotta Kippe bringt deswegen nicht nur das Gedachte, sondern auch das Gefühlte, manchmal auch das Verschleierte auf den Punkt. Sie abstrahiert. Zerlegt dafür ihr Abbild in digitale Einzelteile. Und setzt es immer wider neu zusammen. Hell oder dunkel. Zart und fragil. Bis es fast verschwindet. Malerisch mutet es an, wirkt still, kühl und geheimnisvoll. Manchmal flößt es gar Angst ein. Farben verwendet sie keine. Nur Nuancen von Weiß, Schwarz und Grau.
Hunderte großformatige Gesichtsvariationen hat Yotta Kippe bisher für ihre Serie geschaffen. Den Bildausschnitt hat sie durch Stirn, Hals, Kinn und Wangenknochen begrenzt. Die Ohren, die dazu beitragen, sich im Raum zu orientieren, zeigt sie nicht. Die Haare, die es möglich machen, das eigene Aussehen schnell und individuell zu verändern, fehlen auch. Stattdessen stilisiert die Künstlerin ihr Gesicht. Macht es zur ikonenhaften Projektionsfläche. Ihre charakteristischen Gesichtszüge glättet oder entfernt sie. Das Gesicht wirkt mal schemenhaft, unscharf oder völlig verwischt. Mund und Nase scheinen mal mehr oder weniger hindurch.
Ihre Augen bearbeitet die Künstlerin fast immer detailliert und differenziert. Mal verändert sie die Form und die Zeichnung. Kopiert ein Auge oder lässt eins weg. Betont den Lidstrich oder die Pupille. Verweigert gar den Blick. "Die Augen", so sagt Yotta Kippe, "sind das Allerwichtigste im Gesicht, außer man küsst." Die Pupille sei die Schnittstelle zwischen dem Inneren eines Menschen und seiner Außenwelt, fügt sie hinzu. Hier trifft aufeinander, was man um sich herum wahrnimmt und das, was man darüber denkt und fühlt.
Yotta Kippe knüpft an ihre eigenen Lebenserfahrungen an. Letztlich geht es ihr bei ihren Arbeiten immer um allgemeinere Fragen. Fragen, die nicht nur sie selbst, sondern den Menschen an sich betreffen, losgelöst von Biographie, Raum und Zeit. Sie zeigt ihre Gesichter wechselweise, mal weise und erfahren, mal schön, verschlossen, vergeistigt oder entfremdet, gar verstört. Obwohl ihre Gesichter konstruiert sind, scheinen sie authentisch und wahr. Sie wirken intensiv, verweigern sich dem schnellen, flüchtigen Anblick. Sie fangen den Betrachter ein. Bieten ihm einen ruhigen Raum für eigene Gedanken und Gefühle. Unspektakulär und still.